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Abstract
In der psychotherapeutischen Behandlung ist die Arbeit mit Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung eine große Herausforderung. Unflexible und starre Interaktions- und Verhaltensmuster auf der einen Seite, aber auch fehlendes Verständnis und negative Erwartungen auf der anderen Seite, sind oft Ursache für ungünstige Therapieverläufe. Um Persönlichkeitsstörungen bzw. Persönlichkeitsmerkmale in ihrer ganzen Dimension zu erfassen, ist es notwendig, Kenntnisse über Motive, Interaktionsmuster und Beziehungserfahrungen zu erlangen. Darüber hinaus wird meist ein multimodales Modell herangezogen, um die zur Persönlichkeit gehörenden einzigartigen psychologischen und physiologischen Merkmale mit der jeweils charakteristischen Anpassung an externe Gegebenheiten zu beschreiben. Persönlichkeitsmerkmale, die einer Persönlichkeitsstörung zugeordnet werden, kommen mit unterschiedlicher Ausprägung vor und gelten vielfach als individueller Persönlichkeitsstil. Wir verstehen darunter Verhaltens- und Erlebensweisen mit einer charakteristischen Persönlichkeitsstruktur, die je nach Erfahrungen flexibel oder unflexibel auf Reize und Erwartungen der Umgebung reagieren. Der Übergang vom Persönlichkeitsstil zur Persönlichkeitsstörung ist jedoch fließend und abhängig vom jeweiligen sozialen Kontext. Das Kontinuum der Ausprägung der Charakteristika reicht demnach von der individuellen Ausprägung (Stil) über die Akzentuierung bis hin zu einer schweren Persönlichkeitsstörung. Dabei gibt es keine klaren empirischen Kriterien, ab wann ein Stil eine Störung wird, Persönlichkeitsstörung ist nicht gleich Persönlichkeitsstörung, selbst bei markanten prototypischen Auffälligkeiten gibt es tiefgreifende Unterschiede (Fiedler, 2016). Um negativen Erwartungen und Einstellungen entgegensteuern zu können, ist ein wichtiger Aspekt die Entpathologisierung, die weitgehend auf dem Verständnis für die Störung der sozialen Interaktion basiert. Persönlichkeitsstörung wird demnach als Beziehungs- und Interaktionsstörung, die erst im sozialen Kontext greifbar wird und sich in dysfunktionalen Beziehungsmustern zeigt, gesehen (Sachse, 2013). Auch in der Diagnostik gibt es einen Paradigmenwechsel, seit der letzten Revision wird die kategoriale Klassifikation der Persönlichkeitsstörungen um https://institut-avm.at/wp-content/uploads/2021/07/alice-sendera-personlichkeitsstorungen-beziehungsstorungen.pdf einen dimensionalen Ansatz zur Beurteilung von Persönlichkeitsmerkmalen erweitert. Für die klinische Praxis bedeutet das neue Modell, dass nicht nur das Funktionsniveau, sondern auch die interpersonelle Dysfunktion zu berücksichtigen ist. Für eine gelungene Psychotherapie ist es wichtig, ein Störungsverständnis zu entwickeln, zu erfahren, welche Bindungsqualität, welche unerfüllten Bedürfnisse, Grundannahmen und Erfahrungen im Laufe der Lebensgeschichte prägend waren sowie das Beziehungsverhalten und Beziehungserleben beeinflussen und aufrechterhalten. Das Verständnis für Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung ermöglicht auf der Grundlage eines fundierten Störungsmodells und einer guten therapeutischen Beziehung effektive psychotherapeutische Interventionen zu planen und umzusetzen. Allen Behandlungsansätzen wohnen die Fragen „In welche Richtung soll verändert werden? Was ist behandelbar, um Lebensqualität und Lebenszufriedenheit zu erhöhen?“ inne, das setzt voraus, dass neben den präsentierten Problemen auch die dysfunktionalen Persönlichkeitszüge, die interpersonellen Interaktionsstile und Verhaltensmuster, die das soziale Funktionsniveau und die Lebensqualität der Person beeinträchtigen, transparent kommuniziert werden, mit dem Ziel Motive für interpersonelle Muster und Interaktionen zu erkennen und zu verändern.